7. November 2021.Dass der Volksmund lügt, weiß selbst das als oberflächlich und stereotyp verschrieene Musical. Böse Menschen haben keine Lieder? Völliger Quatsch, wie man in den Meisterwerken des Genres lernt: Die tollsten Songs in "Candide", "Sweeney Todd" und "Hamilton" haben die Habgierigen, Massenmörder, Despoten. Was so auch für Yael Ronens jüngsten Abend am Maxim Gorki Theater gilt. In "Slippery Slope", übersetzt etwa: rutschiger Abhang, lässt sie Musicalsongs auf aktuelle Debatten treffen, Schmelz und Belting auf Machtmissbrauch, kulturelle Aneignung und "Cancel Culture". Der "Accusation Song" etwa ist eine herrlich zungenbrecherische Aneinanderreihung aller möglichen Beschuldigungen.
Wobei die Sache mit den Bösewichtern hier doch nicht ganz so klar ist. Gustav, ein Sänger um die 50, erzählt uns auf seinem Comeback-Konzert, warum er eine Weile abgetaucht war: Er entdeckt und fördert die blutjunge Sky, ist wie besessen von ihr. Als sie ohne ihn Karriere macht, nicht auf seine herrlich entlarvenden Sprachnachrichten antwortet, dreht er beinahe durch. Von der Sache bekommt Stanka Wind, eine Journalistin, die eigentlich für Gustavs Frau Klara arbeitet. Plötzlich ist Gustav ein #MeToo-Fall. Was tun? Abtauchen? Aussitzen? Und was wird aus den politischen Ambitionen seiner Frau?
Surreale Bilderwelten
Auch wenn die Richtung für Gustav bald deutlich ist – bergab, wie auch Alissa Kolbuschs Bühne mit ihren sich überkreuzenden, abschüssigen Laufstegen kommentiert –, besitzt der Text, an dem auch Itay Reicher mitgearbeitet hat, eine Ronen-typisch hohe Dichte an Pointen und Wendungen. Klar umreißen die Kostüme die Charaktere: Fantasieuniform-Hemd für den Ethnokitsch-Sänger, schwerer Schmuckpanzer für die machtvolle Chefredakteurin. Vor allem in den Konzertszenen kreiert Amit Epstein Kunstwerke, als würde er Lady Gaga ausstatten: so giftig wie wuchernde Masken etwa oder Skys Kleid aus unzähligen Kuscheltieren. Der Rest der Bühne ist Projektionsfläche für Stefano Di Buduos Videos, surreale Bilderwelten, die mal in düster glühende Seelenlandschaften führen, mal den sprichwörtlichen Elefanten im Raum durch den Hintergrund trotten lassen.
(Auszug aus einem der Songs von Shlomi Shaban)
Dass die Figuren ein bisschen schematisch angelegt sind, stört überhaupt nicht, weil es auf diese Weise schnell und kraftvoll zwischen ihnen knallt. Außerdem sind wir hier im Musical, dem vermutlich ersten Debatten-Musical der Welt. Zwar nennt sich der Abend bescheiden "ein Stück mit Liedern". Aber die Songs sind kein Beiwerk, sondern konstituierend. Kunstvoll gehen Sprech- und Gesangstext ineinander über. Die Lyrics retardieren nicht, sondern raffen und kommentieren – wie der gesamte Text in der Musical-Weltsprache Englisch.
Herrliche Reibungen
Komponist Shlomi Shaban schneidert seine mal an den Musical-Stilen der letzten 60 Jahren, mal an ESC-Kitsch, dann wieder an aktuellem Pop erinnernden Nummern den Figuren (und Spieler:innen) auf den Leib. Für die Oldis, also Gustav und Klara, findet er schöne Jazz- und Blues-Motive, TikTok-Star Sky schickt er durch den glatten Pop von Heute. Oft ergibt sich aus emotionssatter Musik und bitter-ironischem Text eine herrliche Reibung. Was ohne die Spieler:innen so vermutlich nicht aufgehen würde.
Alle besitzen sie Charakterstimmen und die Fähigkeit, lässig zwischen Text und Gesang zu wechseln. Lindy Larssons Gustav stiefelt zwischen seinen Selbstmitleidanfällen ziemlich robust über die Bühne und legt all seine echten Gefühle ins falsche Ethno-Pathos seiner Songs (und umgekehrt). Wenn er aus den Tiefen seines irisierenden Baritons loslegt, weiß man plötzlich selbst nicht mehr, was wahr und was gelogen ist.
Lindy Larsson als der von Social-Media-Erinnyen verfolgte Sänger Gustav © Ute Langkafel | MAIFOTO
Was ähnlich für Anastasia Gubareva gilt, in deren Prachtstimme Spott, Verachtung und Lebenserfahrung mitschwingen. Man kann sich gar nicht satthören, auch nicht an ihrem dreckigen Lachen auf die Frage, ob Klara ihren Mann liebe. Gubareva hat die interessanteste Rolle, aber sie ist eben auch eine Spielerin, bei der man nie ganz sicher sein kann, was als nächstes passiert, eine müde blinzelnde Tigerin mit rubinrotem Mezzo. Ihr "Queen Size Bed Blues" über eine ermüdete Ehe gehört zu den besten Nummern des Abends, musikalisch, textlich. Aber eben auch, weil Gubareva das hervorragend kann: plötzlich den Panzer durchlässig machen, auf dass wir sehen (selbst wenn es nur eine weitere Lüge sein sollte).
Wer ohne Sünde ist …
Auch die anderen sind wunderbar: Riah May Knight, die den Abend als Singer-Songwriterin entscheidend mitgeprägt hat, legt unangreifbare Kühle in ihre Stimme, während sie als Charakter immer neue Posen ausprobiert. Vidina Popovs Stanka Sto ist eine Hyäne des nächsten großen Dings, entsprechend hart und unterkühlt geht sie ihre Songs an. Und Emre Aksızoğlu vertrottelt erst Skys Sidekick Shantez, um später als aalglatter Krisenbewältiger Kahn aufzudrehen und mit seinem Strahltenor Glanzlichter zu setzen.
Am Ende ist vor allem eines deutlich: Alle hier haben Dreck am Stecken. Zunehmend verzichten sie auf Differenzierungen zugunsten klarer, schlagkräftiger Narrative. Denn der Kampf um Deutungshoheit und Sympathien ist immer einer um Macht. Wer nach ganz oben will, macht sich die Hände schmutzig. Und wenn man's nicht will? Bleiben die Verhältnisse, wie sie sind. Das ist das Dilemma, mit dem Ronen uns hier konfrontiert – mit der Nebenpointe, dass das Gorki selbst, lange Held im Alles-richtig-machen, zuletzt etwas zu straucheln schien mit Vorwürfen gegen die Intendantin und äußerst fragwürdigen Texten im Programm. So fragt der Abend halb ironisch, halb trotzig, wer ohne Sünde ist. Erfahrungsgemäß dürften es nicht allzu viele sein.
Slippery Slope
A Play with Songs
von Yael Ronen, Shlomi Shaban, Riah May Knight & Itay Reicher
Regie: Yael Ronen, Komposition: Shlomi Shaban, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Yaniv Fridel, Ofer Shabi, Video: Stefano Di Buduo, Lichtdesign: Gregor Roth, Dramaturgie: Jens Hillje, Clara Probst.
Mit: Emre Aksızoğlu, Anastasia Gubareva, Riah May Knight, Lindy Larsson, Vidina Popov.
Premiere am 6. November 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
Von einem "stilistisch abgekochten und musikalisch entwaffnenden Gesamt- und Kleinkunstwerk," schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (7.11.2021). Yael Ronen zeige mit diesem – bei der Premiere stehend bejubelten – moralischen Opfer-Täter-Slapstick, wie man mit wenigen dramaturgischen Handgriffen die Wahrheit in unerreichbare Fernen schiebt. Und wie die Wahrheit, "sobald man sie mit irgendwelchen Narrativen einfangen und benennen will, zur billigen Ableitung von Fiktionen wird." Der Programmzettel zitiere den Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari ("Eine Kurze Geschichte der Menschheit"): es sei nicht die Wahrheit, mit deren Hilfe der Homo Sapiens diesen Planeten erobert habe, sondern seine Fähigkeit, an Fiktionen zu glauben und sich in diesem Glauben mit Millionen fremder Artgenossen zu verstehen und zu organisieren. Das wird aus Sicht dieses Kritikers, "nach diesem Abend, der so blendend gelaunt den Zweifel feiert, ein bisschen schwieriger sein."
Die "etwas überkonstruierte" Handlung und ihre "manchmal auch holprigen" Volten seien das eine, schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (8.11.2021). "Die einzelnen Auftritte sind hingegen so hinreißend, dass man sich gerne daran halten möchte." Die Songzeilen seien nicht immer kongruent zum Verhalten der Charaktere im Spiel, "die Musik gesteht ihnen eine Emotionalität, etwas Uneindeutiges und Zweifelndes zu, das sie sich in ihren Auftritten in der Realität nicht leisten können. Das wiederum macht die Inszenierung stark."
"Ronen schafft das Kunststück, zentrale Gegenwartsdebatten von Identitätspolitik über #MeToo bis Cancel Culture zu einem Musical-Abend zu verdichten", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (8.11.2021). "Wirklich grandios, welche Komplexität der von Ronen gemeinsam mit dem Komponisten und Musiker Shlomi Shaban, Riah May Knight und Itay Reicher entwickelte Abend schafft; wie viele Diskurse und Konfliktlinien er in den Blick bekommt mit seiner Methode, Narrative in ein bewusst mit Klischees spielendes Musical-Personal zu verpacken und via Bühnen-Crash luzide in ihre Einzelteile zu zerlegen."
"Die aufgeregten Cancel-Culture-Debatten darüber, wer worüber sprechen darf und wer und weshalb nicht, mit einem Musical zu verspotten, ist nicht die schlechteste Idee. Die Regisseurin Yael Ronen, geboren in Jerusalem, weltberühmt in Berlin, macht sich damit in ihrer musikalisch absolut hinreißenden Inszenierung 'Slippery Slope' am Berliner Maxim Gorki Theater einen ziemlich cleveren Spaß", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (8.11.2021). "Der formvollendete Absturz auf dem "slippery slope", dem glitschigen Hang der Identitätspolitik, ist das entspannteste Ideologie-Zertrümmerungs-Musical seit Mel Brooks 'Springtime for Hitler'."
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